8-Bit Apokalypse.
- 1993 -
Das Spielzimmer meines Großvaters riecht süßlich nach Orangenlimonade, frischer Möbelpolitur und abgestandenen Pilsflaschen, im Bierkasten kämpfen Fliegen und Wespen. Meine Hand tastet vorsichtig nach dem Einschaltknopf, auf dem unruhig eine einzelne Wespe wartet, dann zieht auch sie sich zurück in den Kasten, kreist ruhelos um klebrige Flaschenhälse, und ich bekomme endlich die kleine, rechteckige Taste zu fassen. Das rote Lämpchen neben dem Modulschacht glüht auf.
Großvaters Nintendo-Konsole ist das erste Westprodukt, das in unserem Plattenbau den Systemwechsel einläutet – auch wenn es bereits so gut wie veraltet ist. Seit einem Jahr überschwemmt das schlicht Super Nintendo betitelte Nachfolgegerät bereits den europäischen Markt. Meine fünfjährigen Hände, die in Vorfreude das Joypad umklammern, interessieren sich jedoch nicht für Systemvergleiche. Großvater und ich wechseln uns ab. Während er spielt, versuche ich, seine fließenden Handbewegungen nachzuahmen. Ruhige, präzise Finger auf roten Knöpfen. Er hat diese Abläufe bereits hundertfach genau so ausgeführt, trotzdem reißt er noch immer ruckartig das Pad in die Luft, sobald er einen Sprung erfolgreich ausführt, sein gesamter Körper in Spannung; bei jedem seiner Sprünge springe ich mit. Schließlich reicht er mir das Joypad und setzt seinen Frühschoppen an die Lippen. Großvater trinkt nicht viel, aber regelmäßig, an Wochenenden bereits nach dem Frühstück. Er schiebt mir eine Orangenlimonade zu, damit wir anstoßen können. Nintendo-Spiele sind seine Weltflucht – eine leicht zu verstehende Ablenkung von dem, was sich dort draußen, hinter den Gardinen, wiedervereinigt.
Seit mein Großvater denken kann, ist seine Welt in Blöcke geteilt. Nicht zu wissen, was sich hinter den pixeligen Fragezeichen verbirgt, die zu Hunderten in unserer Spielwelt platziert sind, hat für Ihn etwas Tröstliches. Während in den umliegenden Wohnblöcken unzählige Kollegen aus seinem alten VEB in die Arbeitslosigkeit rutschen, schenken hier, auf den zwölf Quadratmetern dieses ehemaligen Gästezimmers, einhundert Münzen ein neues Leben und Sterne kurzzeitig Unverwundbarkeit. Als Fünfjähriger ist die 384 Kilobyte große Welt ein Labyrinth versteckter Türen, Wege, Geheimnisse, und, natürlich, Röhren; als Fünfjähriger ist das zustimmende Nicken des Großvaters, dass jetzt die Konsole aus dem Spielschrank geholt werden darf, eine winzige Geste, die über den glücklichen Ausgang ganzer Tage entscheiden kann; als Fünfjähriger ist die kleine Welt in dieser grauen, rechteckigen Kassette unendlich. Unsere Welt vor der Haustür hingegen reicht vom Briefkasten zum Konsum, in die Kleingartenanlage und wieder zurück. Die Freiheit meines Großvaters ist die Freiheit, das zu tun, was er schon immer getan hat. Wenn ich die Wochenenden mit ihm verbringe, darf ich seinen klirrenden Jutebeutel tragen, wenn wir vom Konsum zur Datsche stapfen. Die aufgeplatzten Betonplatten auf dem Gehweg geben keine Geheimnisse frei, egal, wie oft ich aufstampfe. Zwischen den offenen Fugen wachsen keine Pilze, nur kleine Büschel aus Gras. Es ist Beton, sagt mein Großvater. Beton, mehr nicht. Dann sieht er müde an den Plattenbauten hinauf, deren langer Schatten sich kühl auf uns legt. Wir gehen vom Briefkasten in den Konsum, vom Konsum in den Schrebergarten. Ich beobachte ihn dabei, wie er den rostigen Schlüssel in der Tür seiner Datsche dreht. Aus dem Inneren kommt uns der aufgewärmte Geruch vergessener Bierkisten entgegen. Hier ist das Ende seiner Welt.
- 1995 -
Super Mario Bros. ist das einzige Spiel, das mein Großvater besitzt. Es wurde direkt mit der Konsole geliefert. Lange danach noch hält er auf Flohmärkten im Viertel nach anderen Modulen Ausschau, kehrt jedoch in regelmäßigen Abständen enttäuscht heim. Er kann niemanden finden, der die seltenen Spiele für eine handvoll D-Mark gebraucht weiterverkaufen will. Gebraucht ist jedoch alles, was für meinen Großvater im Moment möglich ist. Seit sein VEB aufgelöst wurde, ist kaum Geld im Haus. Meine Orangenlimonade, dreimal so teuer wie sein Bier, spart er sich mühsam vom Mund ab. Das Nintendo jedoch ist neu. Er rühmt sich noch immer damit, dass es in eine glatte Plastikfolie verschweißt war, als er es aus der Packung zog. Selbst die große Pappschachtel, in der es kam, wischt er jede Woche einmal mit einem trockenen Tuch. Wie eine Trophäe steht sie ganz oben auf der Anbauwand.
Schließlich findet er sich damit ab, dass es erst einmal bei Super Mario Bros. bleiben muss. Er beginnt damit, das Spiel als sein großes Projekt zu betrachten, alles rauszuholen, was in diesem kleinen, grauen Modul steckt, jeden Pixel in seiner Gänze zu vermessen. An Sonntagen lädt er mich ein, mit ihm gemeinsam zu entdecken, welche grünen Röhren hinab in die Unterwelt führen, welche unscheinbaren Blöcke die begehrten Extraleben enthalten und wo die geheimen Abkürzungen versteckt sind. Unsere angespannten Hände umklammern die Flaschen. Hinter den Blöcken und Mauern, die wir zerschlagen, warten Geheimnisse und neue Welten.
Wir loten die Grenzen aus, sagt er. Wir schauen, was möglich ist. Er lächelt. Am nächsten Tag aber wieder: Briefkasten, Konsum, Kleingartenanlage, und zurück. Er setzt seinen Frühschoppen an die Lippen, sieht konzentriert auf den Bildschirm. Ich verstehe ihn nicht.
- 1997 -
Mein Großvater träumt von der Apokalypse. Vierzig Jahre lang hat er auf einen falschen Schuss gewartet, einen nervösen Grenzsoldaten an der Mauer, der den Finger zu schnell am Abzug hat, einen jungen Burschen auf einem westdeutschen Bürgersteig verbluten lässt, und den Chruschtschows und Kennedys dieser Welt einen Anlass gibt, den Abzug zu drücken, den sie an der Schläfe der Weltkugel haben, erzählt er, während er halb abwesend, mit zittrigen Händen, auf die roten Knöpfe des Joypads drückt. Ich bin älter geworden – mein Großvater alt. Seine Finger bewegen sich jetzt langsamer, als sie einmal waren, perfekte Absprünge gelingen ihm immer seltener. Am Ende jedes Levels wartet ein Fahnenmast, dessen Spitze mit einem einzigen Sprung berührt werden muss. Großvater erreicht das Ende der Fahnenstange im Spiel längst nicht mehr – in der Wirklichkeit erzählen mir seine zittrigen Hände vom genauen Gegenteil.
Er hat die Grenzen des Spiels abgesteckt, das Ende der letzten Welt gesehen und das Spiel auch im schweren Modus beendet, hat die Sprungschanzen ebenso wie die Abgründe kennen gelernt, die geheimen Abkürzungen entdeckt. Manche allein oder mit mir, andere durch eine ehemalige Kollegin aus dem VEB. Auf dem Weg zu den Schrebergärten machen die beiden manchmal ihre Runde an den alten Fabrikruinen vorbei. Dort haben sie auf ihre letzten Arbeitstage noch Werkzeug und Metall verpackt, das kurz darauf von der Treuhand über die ehemalige Grenze abtransportiert wurde. Wenn sie zu zweit die alten Betriebe passieren, sprechen sie nicht. Erst, wenn sie die Kleingartenanlage erreichen, beginnen die angeregten Gespräche über ihr Lieblingsspiel. Wenn ich gerade nicht zu Besuch bin, verleiht mein Großvater seine Konsole über die Wochenenden. Die Wenigen, die noch im alten Betonblock wohnen, nehmen sein Angebot gerne an, trinken Frühschoppen mit ihm und tauschen sich über die gemeinsamen Erlebnisse mit der mittlerweile völlig überholten 2D-Grafik aus.
- 1999 -
Großvaters Wohnung ist die einzige in seinem Block, in der noch Gardinen hängen. In einigen Stockwerken wurden die Wohnungstüren aus den Angeln gerissen, trotzdem geht er noch immer jede zweite Woche mit dem Wischmob durch den Hausflur. Der moderige Geruch kehrt immer wieder in das Treppenhaus zurück. Wespen kriechen zwischen die Fensterrahmen.
Der graue Klotz, mit dem wir so viel Zeit verbracht haben, ist mittlerweile fast fünfzehn Jahre alt. Die Spielkonsole lädt nicht mehr, wie sie sollte, stellt sogar falsche Bildpunkte dar. Großvater reinigt die Kontakte mit einer weichen Zahnbürste, aber es hilft nichts. Der Schaden lässt sich nicht mehr freiputzen. Die Welt, wie er sie auf dem Bildschirm sieht, ist für ihn nicht mehr wiederzuerkennen. Sie bröckelt, aber Großvater tut, als wäre nichts, er ist wie gelähmt. Die Apokalypse bricht für ihn ein. Nicht mit einem Schlag, nicht mit einem abrupten Ende in absoluter Vernichtung, sondern Pixel für Pixel – mit jedem Kilobyte, das im digitalen Nirvana versinkt, wird Großvater orientierungsloser. Sein Leben ist nicht mehr darstellbar. Die versteckten Eingänge in die Unterwelt, die wir in monatelanger Forschungsarbeit entdeckt haben, erkennt er nicht mehr. Großvater existiert nur noch an der Oberfläche, aber diese Oberfläche ist mir für den Moment genug. Ich ziehe ein Bier aus dem Kasten und reiche es ihm. Vielleicht ist das hier unser letztes Spiel, sage ich mir jeden Tag, bis ich eine Woche später wieder gemeinsam mit ihm das Joypad in die Hand nehme. Vielleicht ist das hier unser letztes Spiel.
- 2002 -
In seinen letzten Tagen bewirft mein Großvater die Pflegekräfte des Krankenhauses mit Plastikgeschirr, tritt nach ihnen und brüllt. Die feinen, klaren Bewegungen, die Präzision, mit der er das Joypad einst navigiert hat, sind lange verschwunden. In diesen letzten Tagen verwandelt er sich in einen Menschen, der seine Grenzen deutlicher spürt als jemals zuvor: seine Gliedmaßen, die ihn an das kalte Krankenbett fesseln, seinen Atem, der nur noch unregelmäßig geht, seinen Verstand, der sich nicht mehr –
In den Stunden, die ihm noch bleiben, ist seine Nahwelt wieder auf 384 Kilobyte geschrumpft. Die Pflegekräfte bringen kein Plastikgeschirr mehr. Während Großvater schläft, spiele ich Super Mario Bros. auf meinem Game Boy, die Musik leise, um ihn nicht zu wecken, aber vielleicht laut genug, um in seine Träume zu dringen. Wenn ich es schaffe, mich selbst davon zu überzeugen, kann ich sanfte, fast unmerkliche Bewegungen in seinen Daumen erahnen.
Großvater liebte die Idee einer Apokalypse, weil sie in seinen Alltag als unkontrollierbare Ausnahme einbrach – eine Ausnahme, in deren Angesicht es ihm erlaubt war, sich machtlos zu fühlen. Es ist keine Schande, in der Stunde des nahen Weltuntergangs in Verzweiflung zu geraten. Game Over – er sehnte sich nach diesen acht Buchstaben. Danach, dass er alles versucht, es jedoch nicht gereicht hat.
Als wir die mit dunklem Staub verflockte Wohnung meines Großvaters ausräumen, finde ich das vergilbte NES in einer der alten Kisten. Das einzige Spielmodul, das mein Großvater jemals besessen hat, steckt noch immer im Schacht. Ich verbinde es mit dem alten Röhrenfernseher, ziehe die Kassette heraus, puste über die Kontakte, stecke sie wieder ein, warte darauf, dass der Bildschirm auflebt. Er bleibt dunkel. Nicht einmal das hintergründige Summen des alten Röhrenfernsehers ist noch zu hören. Sie müssen ihm schon vor Wochen den Strom abgestellt haben.
-2022-
Zwanzig Jahre nach dem Tod meines Großvaters befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Plattenbauten ein großer Erlebnisspielplatz. Neubaukinder spielen auf dem Klettergerüst ein kompliziertes Spiel, das ich unmöglich verstehen kann. Alle Kinder spielen mit, und sie spielen es scheinbar nicht zum ersten Mal. Jedes Mal, wenn sie bemerken, dass es nicht gerecht zugeht, ändern sie die Regeln – solange, bis sie sich richtig anfühlen. Diese Kinder wissen noch nichts vom Ende der Welt, in die sie geboren wurden. Sie sehnen sich noch nicht nach der Apokalypse.
Auf einer Bank spiele ich eine emulierte Version von Super Mario Bros. – die mir so bekannten Bewegungen auf dem Touchscreen meines Smartphones auszuführen, fühlt sich fremd an. Ich schaffe es nicht auf dasselbe Tempo, komme nicht in den Rhythmus. Meine Finger werden unruhig. Am Ende jedes Levels wartet ein Fahnenmast, und ich stoppe, kurz vor dem Sprung.
Das Spiel, das ich auf meinem Telefon spiele, ist nur eine Nachbildung, nicht das Original. Die alte, vergilbte Konsole meines Großvaters wartet im Keller auf mich, ich weiß genau, in welcher Kiste. Wenn ich wollte, könnte ich spielen, sobald ich daheim bin. Es ist nicht weit. Spielen wie früher, als die Fliegen und Wespen noch im Gästezimmer miteinander kämpften. Es tut gut, zu wissen, dass ich das könnte. Dann lehne ich mich gegen die Parkbank, sehe an den Neubauten hinauf, deren langer Schatten sich kühl auf mich senkt, und setze den Frühschoppen an meine Lippen.